Samstag, 10. September 2016

kêtai shôsetsu - Romane auf dem Handy


Der Handyroman ist ein neues Genres, was einerseits fesselt, aber auch provoziert. Drogen, Liebe, Sex und Schwangerschaft - Unterhaltung pur oder auch eine wertvolle literarische Form?


Geschichte

Schon im Jahr 2000 entstanden die ersten Handyromane u.. die Story einer jugendlichen Prostituierten unter dem Namen „Ayu no Monogatari“ (der erste Teil der Reihe „Deep Love“ und wurde schnell zu einem Bestseller. Der Autor der Geschichte, ein junger Mann aus Tokio, der sich al Yoshi bezeichnet, verteilte zu der Zeit in Shibuya für als Marketing tausende Visitenkarten an Schulmädchen und erstellte auch seine eigene Homepage, übner die er den Roman vertrieb. Auch diese gelangte zu großer Bekanntheit. „Deep Love“ wurde dann durch Mundpropaganda zu einem Trend, woraus ein Film, eine Fernsehserie und ein Manga resultierten. Als klassische Printausgabe wurde das Buch 2,7 Millionen Mal verkauft. I der Buchvariante wurde die über Handy etablierte Leserichtung von links nach rechts auch übernommen, wodurch die japanische Leserichtung gedruckter Texte von oben nach unten umgeworfen wurde. Diese horizontale Leserichtung“ (yokogumi) wurde dann auch für alle nachfolgenden Handyroman-Printwerke übertragen und gilt ebenso als Besonderheit des Handyromans.

Diese literarische Gattung ist um das Jahr 2000 herum entstanden und eng mit der in Japan sehr hochentwickelten Handykultur und der Verbreitung des mobilen Internets verbunden. Diese Romane lesen sich nur auf einem kleinen Handy-Display, werden auf dem Weg zur Schule oder Arbeit konsumiert. Weiterhin besonders ist, dass sie meist auch auf dem Handy entstehen. Der Großteil wird von jungen oft anonym bleibenden Autorinnen an weibliche Leser verfasst, was aber männliche Rezipienten nicht ausschließt.


Merkmale, Themen und Sprache

Die Romane werden ausschließlich für Handys verfügbar gemacht, bevor sie dann auch im Printformat veröffentlicht werden.

Handyromane sind wie man vom Namen her sich denken kann Lesestoff für das Handy. Zum Großteil behandeln sie Geschichten mit plakativen und provokativen Themen wie Liebesgeschichten, Prostitution, Suizidversuchen.

Aufgrund der technischen Bedingungen ist auch die Sprache sehr einfach gehalten. Dominant sind knappe, simple Sätze sowie umgangssprachliche Formulierungen. Dialoge und Monologe sind dominierend in der Gestaltung, eine knappe und präzise Sprache und temporeiche Plots sind Besonderheiten.

Hoch literarische und umfangreiche Szenenschilderungen sucht man vergeblich. Literaturwissenschaftler würden sich wohl an den Kopf fassen. Das ist sowieso eine Sache mit der Literaturwissenschaft und neuen Genres und Literaturformen wie der digitalen Literatur. An sich sind solche Erfindungen wünschenswert, sie bringen frischen Wind und sind als Experimente höchst interessant. Aber nach wie vor hängt diese Wissenschaft an alten Traditionen und kann sich nur schwer mit neuen Dingen anfreunden. Darum gibt es hierzulande auch leider wenig wissenschaftliche Publikationen, die sich mit Handyromanen beschäftigen.

Die Kapitel sind recht knapp, sodass sie für den schnellen Konsum und für Leseunterbrechungen geeignet sind. Damit die Worte noch mehr Eindruck hinterlassen, verwenden Autoren Smileys oder Emoticons, wie man es auch aus SMS und Whatsapp inzwischen kennt. Da ja auf einem elektronischen Gerät gelesen wird, gibt es zusätzlich auch die Möglichkeit Spannung und Abwechslung durch Musik, Videos und Fotos zu erzeugen („Enriched Books“).

Anfangs umfasste die Zielgruppe junge Mädchen und junge Frauen in ihren Zwanzigern. Mittlerweile hat sich aber die Leserschaft stark ausgedehnt, sodass auch Handyromane für männliche Jugendliche wie Erwachsene erschienen sind. Der Handyroman wird auf dem Handy gespeichert und kann so überall und zu jeder Zeit abgerufen und konsumiert werden.


Verbreitung

Der Handyroman wird entweder komplett zur Verfügung gestellt oder erscheint als Fortsetzungsroman mit einer schon festgelegten Anzahl an Folgen. Es gibt sie entweder kostenfrei oder kostenpflichtig. Die kostenlosen werden über private Handyseiten betrieben. Die größte japanische Handyplattform, die neben Blog und Tagebuch auch das Erstellen einer Handyroman-Seite ermöglicht, heißt „Magic I-sland (Maho no I-rando). Die Seite soll nach eigenen Angaben über 1 Million Handyromane umfassen. Die kostenpflichtigen Romane dagegen bedürfen nur eines niedrigen Preises und werden über kommerzielle Handyseiten von Verlagen bereit gestellt wie die Seite Shincho ketai bunko („Die Shincho Handy-Kollektion“) des Verlags Shinchosha. Ein normaler Roman ist meist in kleinere Abschnitte unterteilt, die sich innerhalb von wenigen Minuten lesen lassen. Möglich ist es die Romane zu kommentieren und dadurch die Handlung zu beeinflussen. Durch Mundpropaganda wurde dieses literarische Genre schnell zu einem Hit. Doch damit ist nicht gemeint, dass man über die Stories geredet hat, sondern sich eher Handy-Mitteilungen mit entsprechenden Links zu den Romanen geschickt hatte.

Handyromane als Printveröffentlichungen


2007
Titel
Autor
Verlag
1
Koizora
Mika
Starts Publishing
2
Akai ito
Mei
Goma Books
3
Kimizora
Mika
Starts Publishing
4
Isshun no kaze ni nare
Takako Satō
Kōdansha
5
Moshimo kimi ga
Rin
Goma Books
6
Motomenai
Shōzō Kajima
Shōgakukan
7
Jun’ai
Haruka Inamori
Starts Publishing
8
Kage Hinata ni saku
Hitori Gekidan
Gentōsha
9
Yoake no Machi de
Keigo Hogashino
Kadokawa Shoten
10
Rakuen
Miyuki Miyabe
Bungei Shunjū

Die fünft der meistverkauften Romane im Jahr 2007 waren in Japan Handyromane. Das ist schon erstaunlich, dass eine solche reißerische Literatur es auf die Bestseller-Liste geschafft hat. Koizora der Autorin Mika erlangte mit 12 Millionen Lesern den ersten Platz. Von diesen erwähnten Werken wurden 400 000 Exemplare verkauft. Der Handyroman-Markt hat insgesamt über 60 Millionen Euro eingenommen. Auch erstaunlich ist, dass einige Handyromane sogar literarische Preise gewonnen haben, obwohl das Genre gerne als trivial und von schlechter Qualität bezeichnet wird. Einer dieser Romane wurde von einer 27-jährigen Autorin aus Osaka mit dem Pseudonym Towa veröffentlicht. Das Werk erzählt von der Liebesgeschichte zwischen der Studentin Sakura, die mit Prostitution ihr Konsumverlangen stillt und sich ihren Callboy „Leo“ finanziert. Towa wurde dafür von der Tageszeitung Mainichi Shimbun ausgezeichnet und ihr Werk wurde ebenso gedruckt.

Mit Ausnahme von „Deep Love“ wurden fast alle Handyromane der Bestsellerliste 2007 von jungen unerfahren Autorinnen geschrieben. Darum wird diese Phase auch als „2. Boom-Phjase“ von Yoshis „Deep Love“ unterschieden. Mittlerweile haben sich verschiedenen Typen heraus kristallisiert. So hat die Frauenärztin Nahomi Sudo mit ihrem Werk „Love Communication“ einen Sexualratgeber in Form eines Handyromans herausgebracht. Auch Personen wie Yukinori Otaniwagen mit dem Handroman den Versuch als Autor zu debütieren. Weiterhin trauen sich auch japanische renommierte Schriftsteller ans Schreiben von Handromanen: eines der bekanntesten Beispiele ist „Tomorrow´s Rainbow“ der Junbungaku-Autorin und buddhistischen Nonne Jakucho Setouchi.

Größere Verlage in Japan nutzen diesen Boom um Handyromane um Gewinne zu erzielen. Darum werden Handyroman-Wettbewerbe veranstaltet um Nachwuchsautoren zu fördern. Mittlerweile werden auch Klassiker der japanischen Literatur wie Osamu Dazai oder Natsume Soseki im Handyroman-Format neu aufgelegt, also in horizontaler Leserichtung veröffentlicht.


Rezeption und Kritik


Der Handyroman ist ein besonderes Literaturgenre, das aus Handys resultierte. In Japan ist es längst schon ein weit verbreitetes Phänomen, während der Westen bisher kaum davon Wind bekommen hat.

In Japan werden solche Handromane unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten besprochen. Einerseits geht es um die Kommunikation zwischen jungen Mädchen und andererseits um das neue literarische Phänomen selbst.

Mit ersteren ist gemeint, dass die Geschichte keine gewöhnlichen Romane sind, sondern den jungen Autorinnen dazu dienen über ihre Erfahrungen zu reflektieren und mit Gleichgesinnten sich auszutauschen. So beschreibt die Medienwissenschaftlerin Misa Matsuda Handyromane als „interaktives Medium“, denn es besteht ein enger Kontakt zwischen Autorin und Leserinnen. Die Leser können nämlich kommentieren und bewerten und so selbst bestimmen, wie die Handlungen verlaufen. Außerdem sehen weitere Wissenschaftler in Handyromanen wichtige Anregungen der Lebenswelt junger Mädchen. Insofern sind die so trivialen Handyromane durchaus wichtig für psychologische und soziologische Untersuchungen.

Doch meist werden Handromane eher abschätzig behandelt. Als junges Genres wird es mit Manga, Anime als eine popkulturelle Erscheinung abgewertet. Doch auf der anderen Seite wird die neue Gattung als wertvoll angesehen um auch neue Leser für die Literatur zu gewinnen.

Weiterhin trifft die neue Literaturform auf andere Kritik. So befassen sich viele Handyromane mit Themen, die sonst weniger offen in der Wirklichkeit behandelt werden wie Mobbing, Schwangerschaften Minderjähriger und Abtreibung. Negativ ist auch, dass eher umgangssprachliches Japanisch verwendet. So finden sich falsch geschriebene Wörter und grammatikalische Formen wieder. Außerdem befürchten einige Kritiker, dass das Lesen zu einer Handy-Sucht führen könnte. Natürlich zeigt dies, dass man besonders bei einem Medium für eine junge Zielgruppe viel Angriffs- und Diskussionsfläche erwarten kann.

Japan scheint der Vorreiter der Handyromane zu sein. So sollen Handyromane auch ein wichtiger Teil der japanischen Lesekultur sein. Autoren wie Leser sind meist jung, technikbegeistert und meist weiblich. Die Japanologin Johanna Mauermann sieht in Handyromanen die Verbindung von Literatur, Jugendkultur und neuen medientechnischen Trends. Doch den großen Boom erlebten sie vor allem 2007, als viele Handyromane die Bestseller-Listen stürmten. Mittlerweile ist der Trubel um die Romane zurück gegangen, dennoch sind sie als wichtiger Teil der Netzliteratur (Literatur, für das Internet, aber auch digitalisierte Literatur) immer noch beliebt. Mittlerweile kann man ja nicht nur über Handys, sondern über Smartphones und E-Book-Readern Bücher lesen und damit ist man nicht mehr auf kleine Bildschirmgrößen beschränkt.

Nach Oliver Bendel gibt es Ähnlichkeiten zwischen Handyromanen und Haikus. Haikus sind japanische Kurzgedichte mit maximal 17 Silben, somit unterliegen sie also formalen Beschränkungen wie auch die Handyromane, die zu ihren Anfangszeiten, ebenso durch bestimmte Zeichenlängen begrenzt waren.


Handyromane in Deutschland


Zwar gibt es durchaus auch in Deutschland einige wenige Exemplare, doch so wirklich angekommen ist der Trend hier nicht. Der bekannteste deutschsprachige Autor von Handyromanen ist der Wirtschaftsinformativer und Autor Oliver Bendel aus Zürich. Sein erstes digitales Buch „Lucy Luder und der Mord im studiVZ“ wurde 2007 heraus gebracht. Doch dabei blieb es nicht, weitere Werke folgten, wie „Handy Girl“ und „lonelyboy18“, die sich besonders an junge Leser richtet. Darüber hinauat hat auch der bekannte Autor Wolfgang Hohlbein 2009 einen Handyroman mit dem Titel WYRM publiziert. Im Juni 2012 erstellte die Autorin Heike Fröhling ein Portal für aktuelle Handromane. Auch sie hat eigene Handyromane geschrieben und betont die Interaktivität von Handyromanen, mit denen man auch Schüler zum Lesen und Schreiben motivieren kann.

Vergleichbar mit Japan sind in Deutschland auch Plattformen für Netzliteratur entstanden, auf denen Autoren Texte veröffentlichen und austauschen können. Nach Johanna Mauermann und Oliver Bendel können solche Werke einerseits hochwertig, aber auch „Sprachmüll“ sein. Für sie sei die Literatur von unten interaktiv. Man arbeitet mit anderen zusammen, wodurch dann auch der Autor verblassen kann. Diese Literatur ist gekennzeichnet dadurch, dass man liest, sie kommentiert und sich gegenseitig bewertet.


Meine Meinung

Ich bin von diesem Phänomen sehr fasziniert. So sehr, dass ich darüber nachgedacht habe, sogar meine Master-Arbeit darüber zu verfassen. Wie ich aber leider schon erwähnt habe, ist das literarische Genre bisher in Deutschland kaum verbreitet und dementsprechend auch wissenschaftlich eher unerforscht. Das wäre zwar auch ein Vorteil, da ich dann umso mehr zu neuen Erkenntnissen kommen würde, aber viele Vermutungen nicht mit Forschungsliteratur belegen kann.

Persönlich interessiert mich diese Art von Netzliteratur sehr, auch wenn ich ebenso wie die Rezeption der Ansicht bin, dass es positive wie negative Aspekte mit sich bringt. Positiv finde ich, dass man daran erkennt, wie sich Literatur durch Internet und andere Medien verändert und alles ineinander greift. Darüber hinaus auch, dass Autor und Leser gemeinsam sozusagen an einem Handyroman arbeiten und dadurch eben die Leser aktiver und produktiver sein können. Die Einfachheit der Handyromane mag zwar vielleicht abgewertet werden, ich sehe darin auch das große Potenzial, dass dafür eben mehr Leser gewonnen werden und vielleicht auch angeregt werden, eigene Geschichten zu schreiben. Außerdem bieten diese Geschichte auch interessante Einblicke in die japanische Pop- und Jugendkultur und in die Psyche junger Mädchen und Frauen. Natürlich sind solche Werke auch spannend und leicht zu konsumieren, weswegen ich erstaunt bin, dass Handyromane hierzulande kaum beachtet werden.

Das führt mich auch zu der nächsten Frage, weswegen gerade der Handyroman-Markt in Japan so boomt. Ein Grund ist natürlich, dass die Handys in Japan einfach viel länger etabliert sind und mobiles Internet schon sehr früh entwickelt wurde. Außerdem sind, denke ich mal, die meisten Japaner technisch erfahren und können ein Leben ohne Handy gar nicht mehr bewältigen. Klar das trifft auch auf den Rest der Welt zu, aber in Japan war das früher schon sehr stark. Darüber hinaus verstärkt sich damit auch der Aspekt, dass Japaner länger am Handy verweilen, viel mehr Nachrichten schreiben und dadurch eher Handyromane schreiben als vielleicht wir Deutschen. Wie auch Manga lassen sich Handromane schnell mal zwischendurch konsumieren. Das ist in dem hektischen japanischen Alltag, in dem man sich nach Pausen und Entspannung sehnt, einfach überaus passend. So kann man immer beim Pendeln mal kurz abtauchen. Das wären soweit die Gründe, die mir einfallen, weswegen Handyromane gerade in Japan beliebt sind.

Auch wenn die Literatur speziell nur für Handys gemacht wurde und dementsprechend sich Stil, Sprache und Struktur der Handyromane stark daran anpassen, spricht ja nichts dagegen auch komplexere Themen und Geschichten aufs Handy zu bringen. Auch japanische Klassiker haben ihren Weg auf den kleinen Bildschirm gefunden und mittlerweile kann man auch digitale Literatur nicht nur auf Handys, sondern Smartphones, Tablets und E-Reader lesen. Nicht nur für Laien-Autoren, sondern auch etablierte Schriftsteller stellen Handyromane ein tolles Experimentierfeld dar.



Was haltet ihr von Handyromanen? Habt ihr schon mal etwas davon mitbekommen und wenn ja habt ihr solche Geschichten schon einmal gelesen? Welche Vor- und Nachteile seht ihr in diesem literarischen Genre?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen