Mittwoch, 14. September 2016

Anime meets Literatur Teil 1

Im Zuge meiner Master-Arbeit habe ich mich auf die Suche nach interessanten, unverbrauchten Themen gemacht und bin über sogenannte Anime-Adaptionen gestolpert, die klassische Literatur als Vorlage genommen haben. In diesem Zusammenhang wurde ich an alte Anime erinnert, die im europäischen Setting spielten wie Heidi, Huckleberry Finn oder Anne mit den roten Haaren und hatte richtig Lust mir diese Anime mal wieder zu Gemüte zu führen. Ehrlich gesagt war ich erstaunt, dass alle auf Literatur basierten, als Kind hatte ich davon natürlich keine Ahnung. Doch jetzt als Erwachsene und vor allem mit meinem Studium, dessen Schwerpunkt auf Intermedialität liegt (Intermedialität bezeichnet die Beziehung zwischen Medien wie bspw. Literatur und Film), schaue ich mit einem ganz anderen Blick auf solche Anime und möchte mich heute mal mit einigen befassen.


So habe ich zum ersten Mal in Erfahrung gebracht, dass die von mir genannten Anime alle aus einer Anime-Reihe entstammen „World Masterpiece Theater“ (jap. 世界名作劇場,Sekai Meisaku Gekijō), kurz WMT, die Anime zwischen 1974 bis 1997 und seit 2007 wieder auf Romanen basieren. So wird in Wikipedia „Heidi“ als erstes Maisaku bezeichnet. In den folgenden Jahren wurde immer wieder eine neue Serie ausgestrahlt. Leider wurde die Reihe 1997 eingestellt, da die letzten beiden Serien „Meiken Lassie“ und „Ie Naki Ko Remi“ nicht wirklich erfolgreich waren. 2007 wurde jedoch das Werk „Les Miserables: Shojo Cosette“ aufgenommen und ein Neustart gewagt. Interessant fand ich im übrigen auch, dass Anime-Meister wie Isao Takahata und Hayao Miyazaki mitwirken und auch fast alle im deutschen Fernsehen gezeigt wurden. Wir alle wissen ja, dass vor allem Ghibli eine der großen Ausnahmen in der Anime-Branche sind, davon zeugen ihre tollen Animefilme, die große wie kleine Zuschauer bezaubern können und vor allem auch Tiefe beweisen fernab von den gängigen Mainstream-Anime Klischees.

Erst als ich das gelesen hatte, wurde mir einmal bewusst, welche Ausnahme-Anime doch früher einmal sogar für Kinder gezeigt wurden und mir stellte sich die Frage, inwiefern die Anime Werktreue bewiesen (also sich an den Ausgangswerken hielten) und inwiefern sie sich von den „normalen“ Anime unterschieden. Außerdem interessant wäre es auch die Vorstellungen über die dargestellten Epochen, Länder und Kulturen zu untersuchen. Denn die Geschichten sind ja alle aus dem europäischen Raum und spielen auch nicht in der Moderne. Wie gehen die Japaner mit so etwas um? Wie kommen solche westlich geprägten Werke in Japan an? Wird man durch das Schauen der Anime auch zum Lesen der Vorlagen angeregt? All das sind Fragen, die ich wunderbar auch für meine Master-Arbeit verwenden könnte, wenn ich nicht schon mit dem Thema Märchen und Manga liebäugeln würde.

Heute möchte ich euch einige Klassiker aus dieser Reihe vorstellen, einige habe ich selbst gesehen, einige nicht, die besonders in Japan zu großer Popularität kamen und hoffe euch damit einen neuen interessanten Einblick in die Beziehung von Literatur und Anime zu bieten.


Heidi (jap. Arupusu no shojo Haiji wörtlich übersetzt Alpenmädchen Heidi) handelt von der namensgebenden Protagonistin Heidi, einem kleinen Waisenmädchen, das von ihrer Tante groß gezogen wird. Diese kann das nicht mehr tun, weil sie nach Frankfurt ziehen muss und beschließt kurzerhand Heidi zu ihrem Großvater in den Schweizer Alpen unterzubringen. Seit ihre Eltern gestorben sind, hat sich dieser Eigenbrötler kein einziges Mal um sie gekümmert, geschweige denn sich gemeldet und nun will sie ihn zur Verantwortung ziehen. Heidi ist zunächst total begeistert von der neuen Umgebung, fühlt sich frei und eins mit der Natur. Anfangs findet sie den Alten etwas komisch, schließt ihn aber schnell ins Herz. Sie kann es nicht verstehen, weswegen die Leute so schlecht über ihn reden. Daran ist er nicht ganz unschuldig, denn der Großvater lässt sich so gut wie gar nicht im Dorf blicken, lebt ganz allein und verlassen in seiner Hüte ganz oben auf der Alm und verbringt ein Einsiedler-Leben wie es im Buche steht. Auch er kann anfangs nichts mit dem kleinen Kind anfangen, doch auch er merkt sehr schnell, wie reizend Heidi ist und ehe er sich versieht, kann er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Heidi schließt auch sehr schnell Freundschaft mit dem Ziegenpeter, der öfter mal ziemlich keck, frech und launisch ist. Zusammen hüten sie die Ziegen, erkunden die Alpen und bestehen so manche Gefahr und Abenteuer. Alles wirkt wie im Paradies für Heidi. Doch dann kommt eines Tages Heidi´s Tante und will Heidi mit nach Frankfurt nehmen...


Das Ganze könnte man als typische Slice-of-Life-Story bezeichnen und tatsächlich passiert in den ersten Folgen nicht so viel, der Anime hat seinen eigenen Rhythmus und das finde ich gut so. Man merkt, dass der Anime natürlich mehr an Kinder gerichtet ist, so wie auch die Romane als Vorlage von der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri. Dennoch finde ich, hat der Anime sehr viel Charme, er wirkt wesentlich natürlich als so manch andere Anime mit cute girls. Richtig schön finde ich es, wenn man den Anime dann auch noch mit deutscher Synchronisation schaut. Da kann jeder seine eigene Meinung haben, ich finde, die Stimmen sehr passend, zumal die Kinder und Leute so reden wie sie wollen und dann vor allem so richtig schön „deutsch“, wenn ich das mal so sagen darf. Da kommt noch mehr Heimat-Feeling auf. Ich kenne die literarische Vorlage nicht wirklich, hätte aber wirklich Lust diese zu lesen. Erst neulich habe ich aber wieder angefangen „Heidi“ zu schauen und auch wenn das Opening wahnsinnig kitschig und vielleicht auch etwas albern ist, konnte ich nicht anders als mitzusingen. Ich bin mit dem Anime praktisch aufgewachsen und habe es als Kind geliebt. Während ich die Folgen schaute, hatte ich auf einmal richtig Lust, selbst mal in die Schweiz zu fahren, mal auf der Alm Ziegen zu hüten. Ich weiß auch, dass das Bild, was von dem Leben in den Alpen gezeigt wird, stark idealisiert und keineswegs realistisch ist. Es ist nicht alles Friede Freude Eierkuchen, aber dennoch bleiben diese positiven Aspekte erhalten, auch wenn es mal zu Problemen kommen sollte.


Ich habe mich etwas über die Heidi-Romane (ja es gibt mehrere Romane) informiert und erfahren, dass dieses idealtypische Bild der Schweiz bereit dort etabliert wurde und nicht erst mit dem Anime. Insofern sehe ich hier also ein Stück Werktreue im Anime. Der Anime hält sich wirklich sehr nah an den Geschichten der einzelnen Romane. Der erste Roman „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ befasst sich sozusagen mit dem ersten Teil der gesamten Geschichte, nämlich wie Heidi auf die Alm kommt und sich dort einlebt. Danach geht es weiter mit dem Auftreten der Tante Dete, die Heidi nach Frankfurt bringt, wo sie dann die gelähmte Klara kennen lernt und sich mit ihr anfreundet. Dort lernt sie das lesen und schreiben. Obwohl sie eine Freundin hat, fühlt sie sich dort nicht wohl und beginnt zu schlafwandeln, deswegen beschließt man Heidi wieder in die Berge zu bringen. Damit endet der erste Roman.

Im zweiten Roman „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ kehrt die Kleine zu Freuden des Alpöhi wieder zurück. Dieser entwickelt sich im übrigens ebenso etwas weiter, er geht nämlich zum ersten Mal nach langem wieder in die Kirche im Dörfli, worüber die Bewohner natürlich sehr überrascht aber erfreut sind. Heidi, die ja nun etwas gebildeter ist, überzeugt den Peter ebenfalls lesen zu lernen. Anschließend hofft Heidi, dass Klara zu ihr kommt, doch ihre Verfassung ist dafür nicht gut genug. Der Arzt jedoch kommt und ist von dem Ort so begeistert, dass er vorschlägt Klara zur Genesung hierher zu bringen. Das bringt einige Konflikte mit sich, da der Peter immer sehr eifersüchtig ist und schlussendlich soweit geht und ihren Rollenstuhl zerstört. Daraufhin versucht sie zu laufen. Der Rest ist Geschichte.


Jeder der auch den Anime kennt, wird durch meine Zusammenfassungen erkennen, wie nah der Anime an der Vorlage dran ist. Übrigens sind die Heidi-Bücher auch weltweit ein großer Erfolg gewesen, sie wurden in 50 Sprachen übersetzt und mehrmals verfilmt. Es gab nicht nur diesen einen Anime, sondern auch andere Zeichentrickfilme von 1974 bis 2005 wurden immer wieder neue produziert.

Erstaunlich fand ich es, dass die literarische Figur Heidi in Japan sehr große Aufmerksamkeit bekommen hatte, mehr noch als in anderen Ländern. Dabei ist die Rezeption von Heidi in Japan nicht einmal so eng mit der Romanvorlage oder anderen bekannten Verfilmungen verbunden. Es geht primär um die Figur Heidi selbst, die so anziehend auf die Japaner wirkt. Heidi steht nämlich in Japan für ein populäres, kulturelles Konzept der Einfachheit, Natürlichkeit und natürlich, wer hätte es gedacht, Niedlichkeit. Wie ich schon erwähnte, war bereits die Romanvorlage sehr erfolgreich und wurde schnell populär, in Japan dagegen hatte „Heidi“ ihren Durchbruch erst mit dem 1974 produzierten Anime, der auch typische Elemente der Anime-Kultur in die Figur hinein brachte. Ich hatte zwar erwähnt, dass die ganzen Klassiker weniger von Klischees durchzogen waren, aber natürlich nicht komplett davon befreit. Die starke Popularität von Heidi spiegelt sich in den 21 Manga wider. Wie bereits schon die Vorlage geprägt, sind es besonders stereotpe Vorstellungen, die das japanische Bild der Schweiz beeinflussen und eng mit Heidi und deren Lebensgeschichte verbunden sind. Diese umfassen die wunderschönen Berge, die Alpen, die unangetastete Natur und das freie Bauernleben. Alles total unbeschwert, idyllisch und harmonisch und vor allem die starke Naturverbundenheit und Einfachheit sind so Elemente, die wir auch in der japanischen Kultur wider finden.


Ihr könnt euch bestimmt noch vorstellen, wie Heidi noch ausgesehen hat. Interessant ist nämlich daran, dass bei diesem Anime und auch den älteren dieser Reihe noch Wert auf einen international geltenden Zeichenstil gelegt wurde. Also die Figuren entsprechen nicht dem typischen Anime-Schema große Augen und nicht realistische Proportionen wie verrückte Frisuren, sondern wirken tatsächlich realitätsnah. Während im Roman noch das große Heidi-Motiv auf der Natur lag, wurde der Fokus im Anime auf die reine Kindheit gewechselt, was stark mit der Niedlichkeits-Kultur in Japan verbunden ist. Wir wissen ja, dass Kawaii als Konzept in den 1960er Jahren durch Shojo-Manga verbreitet wurde und nun in der gesamten Kultur zu finden ist. Was ich erstaunlich fand war, dass erst 1970 also etwa zur gleichen Zeit der Heidi-Ausstrahlung der große Durchbruch kam. Weil man beide dadurch zusammen sah, gilt Heidi noch heute als Kawaii-Prototyp.

Ich wusste ebenfalls bis vor kurzem nicht, dass Heidi so starke Auswirkungen auf die Anime-Szene und Industrie hatte. Denn mit Heidi, deren Stil und Erzähltempo wurde eine neue Ästhetik der Mainstream-Anime geschaffen, die auch international Erfolg hatte. Heidi gehörte ebenfalls zu einer Entwicklung in den 70er Jahre, die kreativ und experimentell geprägt war und zu diesen gehörte eben auch die World Masterpiece Theater-Reihe.


Nun möchte ich noch etwas zu den Motiven in Heidi schreiben. Wie bereits erwähnt gilt Heidi ja als Symbol für die kindliche Unschuld und reine Natur. Anime-Entwickler Takahata strebte damit die japanische Sehnsucht nach blauem Himmel, Bergen, grünen Wiesen und der reinen Unschuld an. So wurde Heidi besonders stark nach dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen. Natürlich waren die Japaner stark traumatisiert, alles war verloren und zerstört. Man versuchte wirtschaftlich wie finanziell wieder zu wachsen. Für die japanischen Anhänger war Heidi ja eng mit der Schweiz verknüpft. Interessant ist auch, dass man bei einem Experiment, bei dem Heidi-Bilder in verschiedenen Ländern untersucht wurden, man zum Ergebnis kam, dass es in Japan zentrale Motive gibt. Deutsche sehen die Erziehungsthematik einer jungen Waisen und die daraus resultierenden Konflikte. Doch in der japanischen Rezeption sind diese nicht wichtig. Was für die Japaner so reizvoll an Heidi ist, so lautet es, sei die Schönheit der Natur sowie die unschuldige Kindheit. Eine weitere interessante Erkenntnis ist, dass in Heidi ja ein krasser Kontrast zwischen Natur und Stadtleben gemacht wird. So werden die Alpen der modernen Stadt Frankfurt gegenüber gestellt. Das kann wiederum auf Japan übertragen, denn vor der Meiji-Restauration war das Land ebenso mehr Landwirtschafts-Nation und entwickelte sich in einem rasenden Tempo zu einem modernen, hoch entwickelten Land, doch trotz technischer Fortschritte blieb die Naturverbundenheit vorhanden. Und hier wird die Parallele zu Heidi gesehen, denn auch im Anime ist die Nation in einem sagen wir mal Umbruch von einem natürlichen Leben zu einem modernen.


Darüber hinaus wird von der japanischen Literaturwissenschaftlerin Yumiko Bando betont, dass vor allem die Niederlage des Zweiten Weltkrieges die Sehnsucht nach Heidi mit der damit verbundenen Vorstellung der Schweiz als Symbol von Frieden und Natur verstärkte.

Ein zweiter Punkt ist ja die reine, unbeschwerte Kindheit in Heidi, die auch Japaner reizt. Wir wissen ja bereits auch schon durch Anime und Kindchenschema, dass die Kindheit immer thematisiert wird und etwas erstrebenswertes ist. In Heidi ist das noch dominanter, weil wir es ja mit einem richtigen Kind zu tun haben und förmlich zusehen können, wie es aufwächst und sich weiter entwickelt und das sogar relativ natürlich und realitätsnah. Denkwürdig ist, dass mit Heidi auch die Interaktion zwischen den Figuren eindrucksvoll ist. Das merkt man an dem Erzähler und der Art und Weise, wie die Figuren miteinander umgehen. Alles ist natürlich und der Fokus liegt auf der zwischenmenschlichen Wärme und Vertrautheit, besonders zwischen dem Großvater und Heidi. Damit einher geht auch die „Reinigung des Herzens“, die man beim Schauen erfährt und tatsächlich habe ich das ebenso gespürt. Man fühlt sich danach einfach sorgenfrei, noch mehr als bei anderen Anime.




Nun möchte ich noch zu einem zweiten Anime kommen, den ich ebenfalls gerade schaue und parallel dazu auch die Romanvorlage lese. Die Rede ist von dem Anime „Anne mit den roten Haaren“, der auf dem Roman „Anne auf Green Gables“ von Lucy Maud Montgomery basiert.

Worum geht es im Anime? Zunächst werden die zwei Protagonisten Marilla und Matthew vorgestellt, beide Geschwister im höheren Alter (50-60 Jahre), die eine Farm namens Green Gables betreiben und da sie beide schon etwas betagt sind, nun einen Waisenjungen aufnehmen wollen, der ihnen bei der Ackerarbeit hilft. So macht sich Matthew, der eine große Scheu vor Frauen hat und auch sonst extrem schweigsam und unbeholfen ist auf, den Jungen vom Bahnhof abzuholen. Doch er kann dort keinen Jungen erblicken, nur ein kleines dürres, hellhäutiges Mädchen mit feuerroten Haaren und Sommersprossen. Er fragt den Bahnwärter, ob dieser einen Jungen gesehen hat und dieser verweist ihn auf das Mädchen, was scheinbar auf jemanden wartet. Es stellt sich heraus, dass die Vermittlerin der Waisenkinder wohl einen Fehler gemacht und stattdessen ein Waisenmädchen geschickt hat. Matthew, der damit mit kleinen Mädchen erst gar nicht zurecht kommt, nimmt sich aber dem Mädchen an und bringt es mit der Kutsche nach Hause. Bereits auf dem Heimweg verfliegt seine Angst jedoch, denn das Mädchen zieht ihn in seinen Bann. Obwohl Anne so klein und jung ist, verfügt sie über große Worte und Ideen. Durchgängig wird sie als fantasievoll, dramatisch und vor allem als Romantik-Liebhaberin dargestellt, die einfach nicht ihren Mund halten kann. Das stört Matthew aber nicht, da er es sowieso lieber hat, wenn jemand redet, da muss er nichts dazu beitragen. Er stellt sich als guter Zuhörer heraus und ängstigt sich aber davor, das Mädchen wieder weg zuschicken. Zuhause angekommen trifft Marilla der Schlag, die ja einen Jungen und kein Mädchen erwartet hat. Deutlich vermittelt sie Anne, dass sie einen Jungen erwartet hat. Wie man es sich vorstellen kann, macht Anne den beiden eine Szene, sie hatte sich so sehr nach einem neuen Zuhause gesehnt und so gefreut. Auf der Fahrt dahin hat sie sich in die Landschaft verliebt und den Dingen sogar Namen gegeben. Und nun wird ihr alles wieder fortgerissen, das ist zu viel für ihr kleines Herz. Marilla, die total überfordert ist, hin und her schwankt, will das Mädchen aber wieder zurück geben, weil es bestimmt keine Hilfe wäre. Doch wie es der Zufall will, entscheidet sie sich doch für Anne, denn auch sie, trotz ihrer strengen und mürrischen Art, die meist immer sehr ernst wirkt, kann sich Anne nicht entziehen. Auch sie schließt das verträumte Mädchen schnell in ihr Herz. So bleibt Anne also auf Green Gables, verbringt dort wundervolle Tage, bekommt ihre erste richtige Busenfreundin und erlebt so allerlei Schwierigkeiten in der Schule.

Auch diesen Anime hatte ich in meiner Kindheit geschaut, wenn auch nicht so intensiv wie Heidi, ehrlich gesagt nur einige Folgen. Doch da mein Interesse neu entfacht wurde, habe ich den Anime von vorne angefangen und bin mittlerweile schon über der Hälfte der Episoden. Ich muss sagen, dass mir der Anime tatsächlich sogar noch mehr gefällt als „Heidi“. Warum? Ich finde dieser Anime hat noch viel mehr Charme, noch weniger Klischees.


Das beginnt schon bei der Hauptfigur, die ich in der Form, noch nie zuvor erlebt habe. Anne Shirley ist wahrlich ein Ausnahmefall. Sie ist zwar recht jung, aber verwendet eine Sprache, die bestimmt kein so kleines Mädchen hat. Bezeichnend ist ihre ausgeprägte Fantasie, die sie immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Darüber hinaus hat sie eine wirklich exzentrische Persönlichkeit, alles dreht sich um sie. Sie ist keine Mary Sue soviel steht fest, sondern wirklich ganz besonders. So übertreibt sie gerne mal, wird total emotional, dass man sie als Drama Queen bezeichnen kann. Dann ist sie auch noch so verträumt und in Romantik verliebt, alles muss für sie romantisch und herz ergreifend sein. Sie liebt die Natur über alles und könnte dort Tage verbringen. Sie ist teilweise recht verrückt, wenn sie sagt, dass sie sich ihre besten Freundin sonst immer nur ausgedacht hat oder mit Blumen und Bäumen redet. Das ist wahrscheinlich auch Teil ihrer Fantasie. Meist ist sie voller Enthusiasmus, arbeitet hart und ist fleißig, doch ihre Fantasie kommt ihr ständig in die Quere. Man könnte glauben, dass sie aufgrund ihrer Selbstbezogenheit eine hohe Meinung von sich hat. Im Gegenteil, sie wird von Minderwertigkeitskomplexen heimgesucht, vor allem weil sie feuerrote Haare besitzt, die nach ihr ein vollkommen glückliches Leben verweigern. Sie empfindet sich selbst als hässlich und obwohl sie das weiß, rastet sie total aus, wenn jemand sie darauf anspricht oder ihr das offen sagt. Sie kann einfach ihren Mund manchmal nicht halten, was ebenso Schwierigkeiten mit sich bringt. Außerdem ist sie wahnsinnig dickköpfig und nachtragend und kann einem manchmal echt auf die Nerven gehen., Und dennoch, wie ihr seht, ist sie total faszinierend, ich mag es ihr zuzuhören und ihr bei ihren kleinen Abenteuern beizustehen.


Man könnte stundenlang über Anne reden, aber auch die Sachen, die sie erlebt sind erwähnenswert. So ähnlich wie bei Heidi steht das Landleben natürlich im Fokus ganz besonders im Zusammenhang mit der Epoche ich nehme an 19. Jahrhundert. Ich finde dieses Zeitalter richtig anziehend, was ein Grund darstellt, weswegen ich den Anime so gerne schaue. In Sachen Realitätsnähe punktet der Anime in vielerlei Hinsicht, jedoch wird das immer wieder unterbrochen durch die Eskapaden von Anne und ihre Imaginationskraft. Das bringt dann immer Stimmung mit sich. Wir erleben auch wie bei Heidi ihren Lebensweg, sogar noch viel mehr, denn ich glaube, dass sie am Ende sogar eine junge Frau ist. Auch dieser Anime lässt sich dem Genre Slice of Life zuordnen und jede Episode thematisiert wiederum einen anderen unterhaltsamen Tag in Anne´s Leben. Ich kann es gar nicht beschreiben, warum mich das so anzieht, aber es liegt eindeutig an dem Setting und an der Protagonistin selbst und ihre beflügelten Fantasie, die den Alltag immer wieder auf den Kopf stellt. Und das ganz ohne große Klischees zu bedienen. So überrascht mich der Anime immer wieder aufs Neue, einiges ist wirklich unvorhersehbar.


Ich erkenne ähnlich wie bei Heidi, dass auch wieder ein romantisiertes Bild des 19. Jahrhunderts in Kanada erschaffen wird von einem bäuerlichen Leben, das voller Glück, Frieden und Harmonie besteht. Aufgrund der Epoche erkenne ich auch Gemeinsamkeiten zur japanischen Kultur, denn die alten traditionellen Rollenbilder für Mann und Frau werden hier explizit vorgeführt. Marilla und die ganzen anderen Frauen sind wirklich nur für den Haushalt und die Erziehung zuständig und auch Anne muss sich dem unterziehen. So muss sie das Haus beheizen, aufräumen, Geschirr spülen und alles putzen. Die Männer dagegen gehen morgens hinaus auf das Feld und die Farm, kümmern sich ums Acker und die Tiere. Abends kehren sie wieder nach Hause und lassen sich bekochen. Ebenfalls wünscht man sich lieber einen Jungen, der tatkräftig mit auf dem Acker anpacken kann. Hier wird noch eine strenge Trennung von Mädchen und Jungen, Frau und Mann gemacht, was schon teilweise sehr diskriminierend sein kann. Mädchen sind ja schwach und gehören ins Haus, die können unmöglich wirklich physische Arbeit erledigen. Und so ähnlich kann man sich ein noch recht traditionelles Geschlechterbild in Japan vorstellen.

Zum anderen spiegeln sich auch die damaligen Normen und Werte wider, auf Äußerlichkeiten wird sehr geachtet, was man an Anne besonders sieht, die ihr Aussehen sehr verachtet. Ich finde es reizvoll, dass nicht nur die Entwicklung Anne´s gezeigt wird, sondern auch die anderen Figuren von Bedeutung sind. So u.a. Marilla, die ja zuvor noch nie Kinder erzogen hat, und nun vor der Schwierigkeit steht. Erziehungsfragen werden immer wieder aufgeworfen, zumal Anne ja ein richtiger Wildfang ist. Hin und her gerissen ist Marilla, wenn sie nicht weiß, wie sie mit ihr umgehen soll. Wie soll sie sie ordentlich bestrafen? Matthew ist auch so ein Problemfall, da er sehr schweigsam und nervös bei Frauen wird und sich ebenfalls immer wieder überwinden muss.


Auf der anderen Seite wäre das Innovative in der Geschichte eben die Hauptfigur selbst, die immer wieder mit der konventionen geprägten Gesellschaft in Konflikt gerät. Da wäre zum einen natürlich ihr Aussehen, was sie stark von anderen unterscheidet, aber auch ihr Temperament besonders ihr Fantasievermögen, das die Grenzen der Realität sprengt. Ich denke mal, dass das ebenfalls auf die Japaner reizvoll wirkt, da man in der japanischen Gesellschaft Kreativität nicht wirklich fördert, mehr Konformität und da würde Anne natürlich heraus fallen. Es ist eventuell die Sehnsucht nach dieser Unbeschwertheit und Freiheit, die Anne immer wieder verdeutlicht, die so anziehend ist und dazu führte, dass die Geschichte in Japan so beliebt wurde.

Bei der Romanvorlage musste ich während des Lesens der ersten Seiten schon feststellen, da der Anime sich mal wieder wirklich total eng an der Vorlage hält. Ich musste förmlich schmunzeln, dass in der deutschen Fassung die Figuren haargenau so redeten, wie in der englischen Originalvorlage. Interessant ist, dass der Roman im englischsprachigen Raum so bekannt ist wie Pipi Langstrumpf in Deutschland und dass Astrid Lindgren sich von dem Roman hat inspirieren lassen. Auch der Hintergrund der Story ist erwähnenswert. So hat sich die Autorin einen Zeitungsartikel zu Gemüte geführt, in dem ein Paar schilderte, wie es aus Versehen anstelle eines Waisenjungen ein Waisenmädchen bekam und dennoch behielten. Eben der Plot der Geschichte. Teilweise autobiographisch ist das Buch, da Montgomary Erinnerungen an die eigene Kindheit auf dem bäuerlichen Prince Edward Island Ende des 19. Jahrhunderts einfließen ließ.

Ähnlich wie bei Heidi gibt es mehrere Romane über Anne, der erste und zweite Teil handelt von der Kindheit Annes bis in die Jugend, während der zweite Roman Anne bei ihrem Erwachsenwerden begleitet. Das geht soweit, dass wir Anne sogar bis ins hohe Alter von 54 Jahren begleiten können, sage und schreibe 9 Teile hat die Autorin verfasst.



Puh, habe ich einen langen Text verfasst und da ich eigentlich noch nicht fertig mit den Klassikern bin, werde ich daraus kurzerhand eine Reihe machen und euch natürlich noch weitere Anime-Adaptionen vorstellen. Wie hat euch das gefallen? Kennt ihr die Anime oder sogar die Anime-Reihe? Welche Meinung habt ihr über diese Anime? Denkt ihr, dass es möglich ist, mit solchen Anime zum Lesen beizutragen? Kann man diese Anime als pädagogisch wertvoll betrachten? Ich bin gespannt, was ihr davon haltet.


1 Kommentar:

  1. Es gibt allerdings auch sehr gelungene Anime-Adaptionen, die sich keinesfalls an jüngere Zuschauer richten. So sehe man sich z.B. den nihilistischen Anime "Aku No Hana", der die Stimmung der Gedichtesammlung "Les fleurs du mal" von Charles Baudelair ausdrückt, sowie auch z.B. "Maria-sama ga miteru" aka "Rosen unter Marias Obhut", welcher sich zwar nicht auf berühmte Literatur bezieht, aber ebenfalls eine Romanvorlage hat und dadurch großartige Ausdrücke und Sprache besitzt, deren Zauber auch in einer ganz eigenen Welt wirkt, die nicht jedem zugänglich ist.

    Alles in allem ein wunderbarer Artikel, der mich positiv in meine Kindheit zurück versetzt hat :)

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