Im Zuge meiner Master-Arbeit habe ich mich auf die Suche nach interessanten, unverbrauchten Themen gemacht und bin über sogenannte Anime-Adaptionen gestolpert, die klassische Literatur als Vorlage genommen haben. In diesem Zusammenhang wurde ich an alte Anime erinnert, die im europäischen Setting spielten wie Heidi, Huckleberry Finn oder Anne mit den roten Haaren und hatte richtig Lust mir diese Anime mal wieder zu Gemüte zu führen. Ehrlich gesagt war ich erstaunt, dass alle auf Literatur basierten, als Kind hatte ich davon natürlich keine Ahnung. Doch jetzt als Erwachsene und vor allem mit meinem Studium, dessen Schwerpunkt auf Intermedialität liegt (Intermedialität bezeichnet die Beziehung zwischen Medien wie bspw. Literatur und Film), schaue ich mit einem ganz anderen Blick auf solche Anime und möchte mich heute mal mit einigen befassen.
So
habe ich zum ersten Mal in Erfahrung gebracht, dass die von mir
genannten Anime alle aus einer Anime-Reihe entstammen „World
Masterpiece Theater“ (jap. 世界名作劇場,Sekai
Meisaku Gekijō), kurz WMT, die
Anime zwischen 1974 bis 1997 und seit 2007 wieder auf Romanen
basieren. So wird in Wikipedia „Heidi“ als erstes Maisaku
bezeichnet. In den folgenden Jahren wurde immer wieder eine neue
Serie ausgestrahlt. Leider wurde die Reihe 1997 eingestellt, da die
letzten beiden Serien „Meiken Lassie“ und „Ie Naki Ko Remi“
nicht wirklich erfolgreich waren. 2007 wurde jedoch das Werk „Les
Miserables: Shojo Cosette“ aufgenommen und ein Neustart gewagt.
Interessant fand ich im übrigen auch, dass Anime-Meister wie Isao
Takahata und Hayao Miyazaki mitwirken und auch fast alle im deutschen
Fernsehen gezeigt wurden. Wir alle wissen ja, dass vor allem Ghibli
eine der großen Ausnahmen in der Anime-Branche sind, davon zeugen
ihre tollen Animefilme, die große wie kleine Zuschauer bezaubern
können und vor allem auch Tiefe beweisen fernab von den gängigen
Mainstream-Anime Klischees.
Erst
als ich das gelesen hatte, wurde mir einmal bewusst, welche
Ausnahme-Anime doch früher einmal sogar für Kinder gezeigt wurden
und mir stellte sich die Frage, inwiefern die Anime Werktreue
bewiesen (also sich an den Ausgangswerken hielten) und inwiefern sie
sich von den „normalen“ Anime unterschieden. Außerdem
interessant wäre es auch die Vorstellungen über die dargestellten
Epochen, Länder und Kulturen zu untersuchen. Denn die Geschichten
sind ja alle aus dem europäischen Raum und spielen auch nicht in der
Moderne. Wie gehen die Japaner mit so etwas um? Wie kommen solche
westlich geprägten Werke in Japan an? Wird man durch das Schauen der
Anime auch zum Lesen der Vorlagen angeregt? All das sind Fragen, die
ich wunderbar auch für meine Master-Arbeit verwenden könnte, wenn
ich nicht schon mit dem Thema Märchen und Manga liebäugeln würde.
Heute
möchte ich euch einige Klassiker aus dieser Reihe vorstellen, einige
habe ich selbst gesehen, einige nicht, die besonders in Japan zu
großer Popularität kamen und hoffe euch damit einen neuen
interessanten Einblick in die Beziehung von Literatur und Anime zu
bieten.
Heidi
(jap. Arupusu no shojo Haiji wörtlich übersetzt Alpenmädchen
Heidi) handelt von der namensgebenden Protagonistin Heidi, einem
kleinen Waisenmädchen, das von ihrer Tante groß gezogen wird. Diese
kann das nicht mehr tun, weil sie nach Frankfurt ziehen muss und
beschließt kurzerhand Heidi zu ihrem Großvater in den Schweizer
Alpen unterzubringen. Seit ihre Eltern gestorben sind, hat sich
dieser Eigenbrötler kein einziges Mal um sie gekümmert, geschweige
denn sich gemeldet und nun will sie ihn zur Verantwortung ziehen.
Heidi ist zunächst total begeistert von der neuen Umgebung, fühlt
sich frei und eins mit der Natur. Anfangs findet sie den Alten etwas
komisch, schließt ihn aber schnell ins Herz. Sie kann es nicht
verstehen, weswegen die Leute so schlecht über ihn reden. Daran ist
er nicht ganz unschuldig, denn der Großvater lässt sich so gut wie
gar nicht im Dorf blicken, lebt ganz allein und verlassen in seiner
Hüte ganz oben auf der Alm und verbringt ein Einsiedler-Leben wie es
im Buche steht. Auch er kann anfangs nichts mit dem kleinen Kind
anfangen, doch auch er merkt sehr schnell, wie reizend Heidi ist und
ehe er sich versieht, kann er sich ein Leben ohne sie nicht
vorstellen. Heidi schließt auch sehr schnell Freundschaft mit dem
Ziegenpeter, der öfter mal ziemlich keck, frech und launisch ist.
Zusammen hüten sie die Ziegen, erkunden die Alpen und bestehen so
manche Gefahr und Abenteuer. Alles wirkt wie im Paradies für Heidi.
Doch dann kommt eines Tages Heidi´s Tante und will Heidi mit nach
Frankfurt nehmen...
Das
Ganze könnte man als typische Slice-of-Life-Story bezeichnen und
tatsächlich passiert in den ersten Folgen nicht so viel, der Anime
hat seinen eigenen Rhythmus und das finde ich gut so. Man merkt, dass
der Anime natürlich mehr an Kinder gerichtet ist, so wie auch die
Romane als Vorlage von der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri.
Dennoch finde ich, hat der Anime sehr viel Charme, er wirkt
wesentlich natürlich als so manch andere Anime mit cute girls.
Richtig schön finde ich es, wenn man den Anime dann auch noch mit
deutscher Synchronisation schaut. Da kann jeder seine eigene Meinung
haben, ich finde, die Stimmen sehr passend, zumal die Kinder und
Leute so reden wie sie wollen und dann vor allem so richtig schön
„deutsch“, wenn ich das mal so sagen darf. Da kommt noch mehr
Heimat-Feeling auf. Ich kenne die literarische Vorlage nicht
wirklich, hätte aber wirklich Lust diese zu lesen. Erst neulich habe
ich aber wieder angefangen „Heidi“ zu schauen und auch wenn das
Opening wahnsinnig kitschig und vielleicht auch etwas albern ist,
konnte ich nicht anders als mitzusingen. Ich bin mit dem Anime
praktisch aufgewachsen und habe es als Kind geliebt. Während ich die
Folgen schaute, hatte ich auf einmal richtig Lust, selbst mal in die
Schweiz zu fahren, mal auf der Alm Ziegen zu hüten. Ich weiß auch,
dass das Bild, was von dem Leben in den Alpen gezeigt wird, stark
idealisiert und keineswegs realistisch ist. Es ist nicht alles Friede
Freude Eierkuchen, aber dennoch bleiben diese positiven Aspekte
erhalten, auch wenn es mal zu Problemen kommen sollte.
Ich
habe mich etwas über die Heidi-Romane (ja es gibt mehrere Romane)
informiert und erfahren, dass dieses idealtypische Bild der Schweiz
bereit dort etabliert wurde und nicht erst mit dem Anime. Insofern
sehe ich hier also ein Stück Werktreue im Anime. Der Anime hält
sich wirklich sehr nah an den Geschichten der einzelnen Romane. Der
erste Roman „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ befasst sich
sozusagen mit dem ersten Teil der gesamten Geschichte, nämlich wie
Heidi auf die Alm kommt und sich dort einlebt. Danach geht es weiter
mit dem Auftreten der Tante Dete, die Heidi nach Frankfurt bringt, wo
sie dann die gelähmte Klara kennen lernt und sich mit ihr
anfreundet. Dort lernt sie das lesen und schreiben. Obwohl sie eine
Freundin hat, fühlt sie sich dort nicht wohl und beginnt zu
schlafwandeln, deswegen beschließt man Heidi wieder in die Berge zu
bringen. Damit endet der erste Roman.
Im
zweiten Roman „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ kehrt die
Kleine zu Freuden des Alpöhi wieder zurück. Dieser entwickelt sich
im übrigens ebenso etwas weiter, er geht nämlich zum ersten Mal
nach langem wieder in die Kirche im Dörfli, worüber die Bewohner
natürlich sehr überrascht aber erfreut sind. Heidi, die ja nun
etwas gebildeter ist, überzeugt den Peter ebenfalls lesen zu lernen.
Anschließend hofft Heidi, dass Klara zu ihr kommt, doch ihre
Verfassung ist dafür nicht gut genug. Der Arzt jedoch kommt und ist
von dem Ort so begeistert, dass er vorschlägt Klara zur Genesung
hierher zu bringen. Das bringt einige Konflikte mit sich, da der
Peter immer sehr eifersüchtig ist und schlussendlich soweit geht und
ihren Rollenstuhl zerstört. Daraufhin versucht sie zu laufen. Der
Rest ist Geschichte.
Jeder
der auch den Anime kennt, wird durch meine Zusammenfassungen
erkennen, wie nah der Anime an der Vorlage dran ist. Übrigens sind
die Heidi-Bücher auch weltweit ein großer Erfolg gewesen, sie
wurden in 50 Sprachen übersetzt und mehrmals verfilmt. Es gab nicht
nur diesen einen Anime, sondern auch andere Zeichentrickfilme von
1974 bis 2005 wurden immer wieder neue produziert.
Erstaunlich
fand ich es, dass die literarische Figur Heidi in Japan sehr große
Aufmerksamkeit bekommen hatte, mehr noch als in anderen Ländern.
Dabei ist die Rezeption von Heidi in Japan nicht einmal so eng mit
der Romanvorlage oder anderen bekannten Verfilmungen verbunden. Es
geht primär um die Figur Heidi selbst, die so anziehend auf die
Japaner wirkt. Heidi steht nämlich in Japan für ein populäres,
kulturelles Konzept der Einfachheit, Natürlichkeit und natürlich,
wer hätte es gedacht, Niedlichkeit. Wie ich schon erwähnte, war
bereits die Romanvorlage sehr erfolgreich und wurde schnell populär,
in Japan dagegen hatte „Heidi“ ihren Durchbruch erst mit dem 1974
produzierten Anime, der auch typische Elemente der Anime-Kultur in
die Figur hinein brachte. Ich hatte zwar erwähnt, dass die ganzen
Klassiker weniger von Klischees durchzogen waren, aber natürlich
nicht komplett davon befreit. Die starke Popularität von Heidi
spiegelt sich in den 21 Manga wider. Wie bereits schon die Vorlage
geprägt, sind es besonders stereotpe Vorstellungen, die das
japanische Bild der Schweiz beeinflussen und eng mit Heidi und deren
Lebensgeschichte verbunden sind. Diese umfassen die wunderschönen
Berge, die Alpen, die unangetastete Natur und das freie Bauernleben.
Alles total unbeschwert, idyllisch und harmonisch und vor allem die
starke Naturverbundenheit und Einfachheit sind so Elemente, die wir
auch in der japanischen Kultur wider finden.
Ihr
könnt euch bestimmt noch vorstellen, wie Heidi noch ausgesehen hat.
Interessant ist nämlich daran, dass bei diesem Anime und auch den
älteren dieser Reihe noch Wert auf einen international geltenden
Zeichenstil gelegt wurde. Also die Figuren entsprechen nicht dem
typischen Anime-Schema große Augen und nicht realistische
Proportionen wie verrückte Frisuren, sondern wirken tatsächlich
realitätsnah. Während im Roman noch das große Heidi-Motiv auf der
Natur lag, wurde der Fokus im Anime auf die reine Kindheit
gewechselt, was stark mit der Niedlichkeits-Kultur in Japan verbunden
ist. Wir wissen ja, dass Kawaii als Konzept in den 1960er Jahren
durch Shojo-Manga verbreitet wurde und nun in der gesamten Kultur zu
finden ist. Was ich erstaunlich fand war, dass erst 1970 also etwa
zur gleichen Zeit der Heidi-Ausstrahlung der große Durchbruch kam.
Weil man beide dadurch zusammen sah, gilt Heidi noch heute als
Kawaii-Prototyp.
Ich
wusste ebenfalls bis vor kurzem nicht, dass Heidi so starke
Auswirkungen auf die Anime-Szene und Industrie hatte. Denn mit Heidi,
deren Stil und Erzähltempo wurde eine neue Ästhetik der
Mainstream-Anime geschaffen, die auch international Erfolg hatte.
Heidi gehörte ebenfalls zu einer Entwicklung in den 70er Jahre, die
kreativ und experimentell geprägt war und zu diesen gehörte eben
auch die World Masterpiece Theater-Reihe.
Nun
möchte ich noch etwas zu den Motiven in Heidi schreiben. Wie bereits
erwähnt gilt Heidi ja als Symbol für die kindliche Unschuld und
reine Natur. Anime-Entwickler Takahata strebte damit die japanische
Sehnsucht nach blauem Himmel, Bergen, grünen Wiesen und der reinen
Unschuld an. So wurde Heidi besonders stark nach dem Zweiten
Weltkrieg wahrgenommen. Natürlich waren die Japaner stark
traumatisiert, alles war verloren und zerstört. Man versuchte
wirtschaftlich wie finanziell wieder zu wachsen. Für die japanischen
Anhänger war Heidi ja eng mit der Schweiz verknüpft. Interessant
ist auch, dass man bei einem Experiment, bei dem Heidi-Bilder in
verschiedenen Ländern untersucht wurden, man zum Ergebnis kam, dass
es in Japan zentrale Motive gibt. Deutsche sehen die
Erziehungsthematik einer jungen Waisen und die daraus resultierenden
Konflikte. Doch in der japanischen Rezeption sind diese nicht
wichtig. Was für die Japaner so reizvoll an Heidi ist, so lautet es,
sei die Schönheit der Natur sowie die unschuldige Kindheit. Eine
weitere interessante Erkenntnis ist, dass in Heidi ja ein krasser
Kontrast zwischen Natur und Stadtleben gemacht wird. So werden die
Alpen der modernen Stadt Frankfurt gegenüber gestellt. Das kann
wiederum auf Japan übertragen, denn vor der Meiji-Restauration war
das Land ebenso mehr Landwirtschafts-Nation und entwickelte sich in
einem rasenden Tempo zu einem modernen, hoch entwickelten Land, doch
trotz technischer Fortschritte blieb die Naturverbundenheit
vorhanden. Und hier wird die Parallele zu Heidi gesehen, denn auch im
Anime ist die Nation in einem sagen wir mal Umbruch von einem
natürlichen Leben zu einem modernen.
Darüber
hinaus wird von der japanischen Literaturwissenschaftlerin Yumiko
Bando betont, dass vor allem die Niederlage des Zweiten Weltkrieges
die Sehnsucht nach Heidi mit der damit verbundenen Vorstellung der
Schweiz als Symbol von Frieden und Natur verstärkte.
Ein
zweiter Punkt ist ja die reine, unbeschwerte Kindheit in Heidi, die
auch Japaner reizt. Wir wissen ja bereits auch schon durch Anime und
Kindchenschema, dass die Kindheit immer thematisiert wird und etwas
erstrebenswertes ist. In Heidi ist das noch dominanter, weil wir es
ja mit einem richtigen Kind zu tun haben und förmlich zusehen
können, wie es aufwächst und sich weiter entwickelt und das sogar
relativ natürlich und realitätsnah. Denkwürdig ist, dass mit Heidi
auch die Interaktion zwischen den Figuren eindrucksvoll ist. Das
merkt man an dem Erzähler und der Art und Weise, wie die Figuren
miteinander umgehen. Alles ist natürlich und der Fokus liegt auf der
zwischenmenschlichen Wärme und Vertrautheit, besonders zwischen dem
Großvater und Heidi. Damit einher geht auch die „Reinigung des
Herzens“, die man beim Schauen erfährt und tatsächlich habe ich
das ebenso gespürt. Man fühlt sich danach einfach sorgenfrei, noch
mehr als bei anderen Anime.
Nun
möchte ich noch zu einem zweiten Anime kommen, den ich ebenfalls
gerade schaue und parallel dazu auch die Romanvorlage lese. Die Rede
ist von dem Anime „Anne mit den roten Haaren“, der auf dem Roman
„Anne auf Green Gables“ von Lucy Maud Montgomery basiert.
Worum
geht es im Anime? Zunächst werden die zwei Protagonisten Marilla und
Matthew vorgestellt, beide Geschwister im höheren Alter (50-60
Jahre), die eine Farm namens Green Gables betreiben und da sie beide
schon etwas betagt sind, nun einen Waisenjungen aufnehmen wollen, der
ihnen bei der Ackerarbeit hilft. So macht sich Matthew, der eine
große Scheu vor Frauen hat und auch sonst extrem schweigsam und
unbeholfen ist auf, den Jungen vom Bahnhof abzuholen. Doch er kann
dort keinen Jungen erblicken, nur ein kleines dürres, hellhäutiges
Mädchen mit feuerroten Haaren und Sommersprossen. Er fragt den
Bahnwärter, ob dieser einen Jungen gesehen hat und dieser verweist
ihn auf das Mädchen, was scheinbar auf jemanden wartet. Es stellt
sich heraus, dass die Vermittlerin der Waisenkinder wohl einen Fehler
gemacht und stattdessen ein Waisenmädchen geschickt hat. Matthew,
der damit mit kleinen Mädchen erst gar nicht zurecht kommt, nimmt
sich aber dem Mädchen an und bringt es mit der Kutsche nach Hause.
Bereits auf dem Heimweg verfliegt seine Angst jedoch, denn das
Mädchen zieht ihn in seinen Bann. Obwohl Anne so klein und jung ist,
verfügt sie über große Worte und Ideen. Durchgängig wird sie als
fantasievoll, dramatisch und vor allem als Romantik-Liebhaberin
dargestellt, die einfach nicht ihren Mund halten kann. Das stört
Matthew aber nicht, da er es sowieso lieber hat, wenn jemand redet,
da muss er nichts dazu beitragen. Er stellt sich als guter Zuhörer
heraus und ängstigt sich aber davor, das Mädchen wieder weg
zuschicken. Zuhause angekommen trifft Marilla der Schlag, die ja
einen Jungen und kein Mädchen erwartet hat. Deutlich vermittelt sie
Anne, dass sie einen Jungen erwartet hat. Wie man es sich vorstellen
kann, macht Anne den beiden eine Szene, sie hatte sich so sehr nach
einem neuen Zuhause gesehnt und so gefreut. Auf der Fahrt dahin hat
sie sich in die Landschaft verliebt und den Dingen sogar Namen
gegeben. Und nun wird ihr alles wieder fortgerissen, das ist zu viel
für ihr kleines Herz. Marilla, die total überfordert ist, hin und
her schwankt, will das Mädchen aber wieder zurück geben, weil es
bestimmt keine Hilfe wäre. Doch wie es der Zufall will, entscheidet
sie sich doch für Anne, denn auch sie, trotz ihrer strengen und
mürrischen Art, die meist immer sehr ernst wirkt, kann sich Anne
nicht entziehen. Auch sie schließt das verträumte Mädchen schnell
in ihr Herz. So bleibt Anne also auf Green Gables, verbringt dort
wundervolle Tage, bekommt ihre erste richtige Busenfreundin und
erlebt so allerlei Schwierigkeiten in der Schule.
Auch
diesen Anime hatte ich in meiner Kindheit geschaut, wenn auch nicht
so intensiv wie Heidi, ehrlich gesagt nur einige Folgen. Doch da mein
Interesse neu entfacht wurde, habe ich den Anime von vorne angefangen
und bin mittlerweile schon über der Hälfte der Episoden. Ich muss
sagen, dass mir der Anime tatsächlich sogar noch mehr gefällt als
„Heidi“. Warum? Ich finde dieser Anime hat noch viel mehr Charme,
noch weniger Klischees.
Das
beginnt schon bei der Hauptfigur, die ich in der Form, noch nie zuvor
erlebt habe. Anne Shirley ist wahrlich ein Ausnahmefall. Sie ist zwar
recht jung, aber verwendet eine Sprache, die bestimmt kein so kleines
Mädchen hat. Bezeichnend ist ihre ausgeprägte Fantasie, die sie
immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Darüber hinaus hat sie eine
wirklich exzentrische Persönlichkeit, alles dreht sich um sie. Sie
ist keine Mary Sue soviel steht fest, sondern wirklich ganz
besonders. So übertreibt sie gerne mal, wird total emotional, dass
man sie als Drama Queen bezeichnen kann. Dann ist sie auch noch so
verträumt und in Romantik verliebt, alles muss für sie romantisch
und herz ergreifend sein. Sie liebt die Natur über alles und könnte
dort Tage verbringen. Sie ist teilweise recht verrückt, wenn sie
sagt, dass sie sich ihre besten Freundin sonst immer nur ausgedacht
hat oder mit Blumen und Bäumen redet. Das ist wahrscheinlich auch
Teil ihrer Fantasie. Meist ist sie voller Enthusiasmus, arbeitet hart
und ist fleißig, doch ihre Fantasie kommt ihr ständig in die Quere.
Man könnte glauben, dass sie aufgrund ihrer Selbstbezogenheit eine
hohe Meinung von sich hat. Im Gegenteil, sie wird von
Minderwertigkeitskomplexen heimgesucht, vor allem weil sie feuerrote
Haare besitzt, die nach ihr ein vollkommen glückliches Leben
verweigern. Sie empfindet sich selbst als hässlich und obwohl sie
das weiß, rastet sie total aus, wenn jemand sie darauf anspricht
oder ihr das offen sagt. Sie kann einfach ihren Mund manchmal nicht
halten, was ebenso Schwierigkeiten mit sich bringt. Außerdem ist sie
wahnsinnig dickköpfig und nachtragend und kann einem manchmal echt
auf die Nerven gehen., Und dennoch, wie ihr seht, ist sie total
faszinierend, ich mag es ihr zuzuhören und ihr bei ihren kleinen
Abenteuern beizustehen.
Man
könnte stundenlang über Anne reden, aber auch die Sachen, die sie
erlebt sind erwähnenswert. So ähnlich wie bei Heidi steht das
Landleben natürlich im Fokus ganz besonders im Zusammenhang mit der
Epoche ich nehme an 19. Jahrhundert. Ich finde dieses Zeitalter
richtig anziehend, was ein Grund darstellt, weswegen ich den Anime so
gerne schaue. In Sachen Realitätsnähe punktet der Anime in
vielerlei Hinsicht, jedoch wird das immer wieder unterbrochen durch
die Eskapaden von Anne und ihre Imaginationskraft. Das bringt dann
immer Stimmung mit sich. Wir erleben auch wie bei Heidi ihren
Lebensweg, sogar noch viel mehr, denn ich glaube, dass sie am Ende
sogar eine junge Frau ist. Auch dieser Anime lässt sich dem Genre
Slice of Life zuordnen und jede Episode thematisiert wiederum einen
anderen unterhaltsamen Tag in Anne´s Leben. Ich kann es gar nicht
beschreiben, warum mich das so anzieht, aber es liegt eindeutig an
dem Setting und an der Protagonistin selbst und ihre beflügelten
Fantasie, die den Alltag immer wieder auf den Kopf stellt. Und das
ganz ohne große Klischees zu bedienen. So überrascht mich der Anime
immer wieder aufs Neue, einiges ist wirklich unvorhersehbar.
Ich
erkenne ähnlich wie bei Heidi, dass auch wieder ein romantisiertes
Bild des 19. Jahrhunderts in Kanada erschaffen wird von einem
bäuerlichen Leben, das voller Glück, Frieden und Harmonie besteht.
Aufgrund der Epoche erkenne ich auch Gemeinsamkeiten zur japanischen
Kultur, denn die alten traditionellen Rollenbilder für Mann und Frau
werden hier explizit vorgeführt. Marilla und die ganzen anderen
Frauen sind wirklich nur für den Haushalt und die Erziehung
zuständig und auch Anne muss sich dem unterziehen. So muss sie das
Haus beheizen, aufräumen, Geschirr spülen und alles putzen. Die
Männer dagegen gehen morgens hinaus auf das Feld und die Farm,
kümmern sich ums Acker und die Tiere. Abends kehren sie wieder nach
Hause und lassen sich bekochen. Ebenfalls wünscht man sich lieber
einen Jungen, der tatkräftig mit auf dem Acker anpacken kann. Hier
wird noch eine strenge Trennung von Mädchen und Jungen, Frau und
Mann gemacht, was schon teilweise sehr diskriminierend sein kann.
Mädchen sind ja schwach und gehören ins Haus, die können unmöglich
wirklich physische Arbeit erledigen. Und so ähnlich kann man sich
ein noch recht traditionelles Geschlechterbild in Japan vorstellen.
Zum
anderen spiegeln sich auch die damaligen Normen und Werte wider, auf
Äußerlichkeiten wird sehr geachtet, was man an Anne besonders
sieht, die ihr Aussehen sehr verachtet. Ich finde es reizvoll, dass
nicht nur die Entwicklung Anne´s gezeigt wird, sondern auch die
anderen Figuren von Bedeutung sind. So u.a. Marilla, die ja zuvor
noch nie Kinder erzogen hat, und nun vor der Schwierigkeit steht.
Erziehungsfragen werden immer wieder aufgeworfen, zumal Anne ja ein
richtiger Wildfang ist. Hin und her gerissen ist Marilla, wenn sie
nicht weiß, wie sie mit ihr umgehen soll. Wie soll sie sie
ordentlich bestrafen? Matthew ist auch so ein Problemfall, da er sehr
schweigsam und nervös bei Frauen wird und sich ebenfalls immer
wieder überwinden muss.
Auf
der anderen Seite wäre das Innovative in der Geschichte eben die
Hauptfigur selbst, die immer wieder mit der konventionen geprägten
Gesellschaft in Konflikt gerät. Da wäre zum einen natürlich ihr
Aussehen, was sie stark von anderen unterscheidet, aber auch ihr
Temperament besonders ihr Fantasievermögen, das die Grenzen der
Realität sprengt. Ich denke mal, dass das ebenfalls auf die Japaner
reizvoll wirkt, da man in der japanischen Gesellschaft Kreativität
nicht wirklich fördert, mehr Konformität und da würde Anne
natürlich heraus fallen. Es ist eventuell die Sehnsucht nach dieser
Unbeschwertheit und Freiheit, die Anne immer wieder verdeutlicht, die
so anziehend ist und dazu führte, dass die Geschichte in Japan so
beliebt wurde.
Bei
der Romanvorlage musste ich während des Lesens der ersten Seiten
schon feststellen, da der Anime sich mal wieder wirklich total eng an
der Vorlage hält. Ich musste förmlich schmunzeln, dass in der
deutschen Fassung die Figuren haargenau so redeten, wie in der
englischen Originalvorlage. Interessant ist, dass der Roman im
englischsprachigen Raum so bekannt ist wie Pipi Langstrumpf in
Deutschland und dass Astrid Lindgren sich von dem Roman hat
inspirieren lassen. Auch der Hintergrund der Story ist erwähnenswert.
So hat sich die Autorin einen Zeitungsartikel zu Gemüte geführt, in
dem ein Paar schilderte, wie es aus Versehen anstelle eines
Waisenjungen ein Waisenmädchen bekam und dennoch behielten. Eben der
Plot der Geschichte. Teilweise autobiographisch ist das Buch, da
Montgomary Erinnerungen an die eigene Kindheit auf dem bäuerlichen
Prince Edward Island Ende des 19. Jahrhunderts einfließen ließ.
Ähnlich
wie bei Heidi gibt es mehrere Romane über Anne, der erste und zweite
Teil handelt von der Kindheit Annes bis in die Jugend, während der
zweite Roman Anne bei ihrem Erwachsenwerden begleitet. Das geht
soweit, dass wir Anne sogar bis ins hohe Alter von 54 Jahren
begleiten können, sage und schreibe 9 Teile hat die Autorin
verfasst.
Puh,
habe ich einen langen Text verfasst und da ich eigentlich noch nicht
fertig mit den Klassikern bin, werde ich daraus kurzerhand eine Reihe
machen und euch natürlich noch weitere Anime-Adaptionen vorstellen.
Wie hat euch das gefallen? Kennt ihr die Anime oder sogar die
Anime-Reihe? Welche Meinung habt ihr über diese Anime? Denkt ihr,
dass es möglich ist, mit solchen Anime zum Lesen beizutragen? Kann
man diese Anime als pädagogisch wertvoll betrachten? Ich bin
gespannt, was ihr davon haltet.
Es gibt allerdings auch sehr gelungene Anime-Adaptionen, die sich keinesfalls an jüngere Zuschauer richten. So sehe man sich z.B. den nihilistischen Anime "Aku No Hana", der die Stimmung der Gedichtesammlung "Les fleurs du mal" von Charles Baudelair ausdrückt, sowie auch z.B. "Maria-sama ga miteru" aka "Rosen unter Marias Obhut", welcher sich zwar nicht auf berühmte Literatur bezieht, aber ebenfalls eine Romanvorlage hat und dadurch großartige Ausdrücke und Sprache besitzt, deren Zauber auch in einer ganz eigenen Welt wirkt, die nicht jedem zugänglich ist.
AntwortenLöschenAlles in allem ein wunderbarer Artikel, der mich positiv in meine Kindheit zurück versetzt hat :)