Das junge, verwöhnte Mädchen Nao aus wohlhabenden Haus hält es nicht mehr in ihrer Familie aus und beschließt auszureißen. Als es merkt, dass es nicht wirklich vermisst wird, schmiedet Nao einen Plan: sie entführt sich selbst! Endlich bekommt sie die Aufmerksamkeit, nach der sie sich gesehnt hat. Doch alles kommt ganz anders, als es von ihr geplant war...
Mit
diesem One-Shot liefert uns der recht bekannte Autor Otsuichi wieder
mal ein Werk, dass sich nicht mit dem Mainstream vergleichen lässt.
Zugegeben ich war schon recht erstaunt, als ich den Manga das erste
Mal in den Händen hielt. Eine Story über eine fiktive Entführung
von einem kleinen Mädchen? Das liest man wirklich nicht alle Tage,
zumal ich bereits einige Werke des Duos Otsuichi und Hiro Kiyohara
lesen durfte, die mich sehr überzeugt hatten. Also habe ich den
Manga dann auch kurzerhand gekauft und gleich verschlungen, was ja
bei einem Einzelband recht schnell geht. Und ich muss sagen, dass ich
einerseits schon von der Geschichte fasziniert bin, andererseits
fand, dass man hätte mehr einbauen können. Doch dazu werde ich im
Verlauf der Review noch näher eingehen.
Der
Leser wird mitten ins Geschehen geworfen, denn die Story beginnt
damit, dass Nao unvermittelt bei einer Freundin Unterkunft sucht,
weil sie von Zuhause weggelaufen ist. Warum sie das getan hat, wird
unmittelbar danach auch erklärt. Damit wird uns schon mal die Figur
selbst näher gebracht, sowie deren Lebensgeschichte und auch Motive,
wodurch wir eine ganz gute Charakterisierung von Nao erhalten. Nao
lebte einige Zeit allein mit ihrer Mutter, bis diese dann beschloss
einen neuen Mann zu heiraten. Damit bekam sie auch eine neue Familie,
alles war ungewohnt, aber sie mochte es. Doch dann starb ihre Mutter
und ließ sie allein zurück.
Damit
einher gingen auch Ängste, dass sie womöglich aus der Familie
ausgestoßen wird, weil sie ja nicht das leibliche Kind ihres Vaters
ist. Ich fand das schon mal sehr interessant, dass so etwas mal in
Mangaform zu lesen, selten hat man solche familiären Konflikte, ob
nun durch Scheidung oder Tod eines Elternteils gelesen. Ich konnte
nachempfinden, wie sich Nao fühlte, so ganz allein in einer Familie,
die nicht ihre eigene ist. Klar, dass man sich davor fürchtet, von
der Familie rausgeschmissen zu werden, aber so weit kam es
glücklicherweise nicht.
Und
hier liegt eigentlich der Kern der Handlung, der sich eigentlich
durch die gesamte Geschichte durchzieht. Es geht im Manga eigentlich
nur um die Familie, und das aus verschiedenen Sichtweisen. Nao, die
sich immer so fühlte, als würde sie nicht dazu gehören, weil sie
ja mit ihrem Vater nicht blutsverwandt ist. Dann kommt nach einiger
Zeit noch Kyoko zur Familie dazu, die die neue Lebensgefährtin ihres
Vaters wird.
Es
ist schon schwer für ein junges Mädchen die Mutter so jung zu
verlieren, sich damit zu arrangieren und dann die neue Partnerin als
eine Art Ersatz zu sehen. Doch dann ist es auch noch so, dass sich
beide überhaupt nicht verstehen. Sie zicken und giften sich
gegenseitig an, drohen sich mit Gewalt, eine Versöhnung scheint
unmöglich. Dann nimmt der Vater Partei für Kyoko, was dazu führt,
dass Nao endgültig der Kragen platzt. Sie fühlt sich unverstanden,
ungeliebt und will nur noch von Zuhause weg. Und hier wären wir also
wieder am Ausgangspunkt der Geschichte.
Jedenfalls
geht es im Manga nicht nur darum, dass man sich seiner Familie nicht
zugehörig empfindet, sondern auch wie wichtig Familie generell ist.
Der Vater hat Nao aufgenommen, nicht weil er es als Pflicht ansah,
sondern weil er trotz dessen das Blut sie nicht verbindet, er sie als
Tochter sieht und sie ein Leben lang begleiten will. Die Stelle fand
ich in dem Manga rührend und zeigt doch, dass Familienbande eben
nicht nur auf biologischer Basis gründen. Doch für Nao, die das nie
so wirklich sehen konnte bzw. der Vater es nie ausdrücklich gesagt
hatte, war die Zuneigung ihrer Familie immer nur etwas, was
wahrscheinlich erzwungen war, als eine Art „Leihgabe“.
Man
sieht also, dass auch innerhalb der Familie Missverständnisse und
Kommunikationsprobleme permanent entstehen können, wenn man sich
nicht ausspricht. Und wiederum eine andere Sichtweise auf Familie
lernen wir durch Kyoko, die Stiefmutter Naos, kennen, die im
Gegensatz zu Nao niemals ohne Familie gewesen ist. An einer Stelle
erklärt sie sehr mitfühlend, dass ihr Nao leid täte und sie sich
nicht im Ansatz vorstellen könnte, ohne Familie zu sein. Egal was
passiert war, egal ob die ganze Welt gegen sie war, für Kyoko waren
ihre Eltern immer für sie da und hielten zu ihr.
Jedenfalls
seht ihr, dass Familie in diesem Einzelband eine sehr wichtige Rolle
einnimmt und ja eigentlich auch der Auslöser für die Flucht von Nao
darstellt. Nao will wie erwähnt eigentlich mit ihrer Abwesenheit nur
erreichen, dass ihre Familie sich um sie sorgt. Sie glaubt also, dass
sie gar nicht von ihr geliebt wird und möchte doch, dass sie ihre
Liebe unter Beweis stellen. Und das alles nur, weil sie sich mit
Kyoko gestritten hatte und ihr Vater nicht zu ihr hielt. Man darf ihr
gerne impulsive unüberlegte Handlungen vorwerfen, aber ich glaube,
dass zeigt umso glaubwürdiger, wie Kinder oder Teenager eben ticken.
Dass sie eben nicht versuchen sich in andere hinein zu versetzen,
sondern sich ihren Stimmungsschwankungen hingeben und dann doch
irrational handeln. Sicherlich nicht gerade positiv, aber es macht
die Protagonistin einfach authentischer.
Jedenfalls
sucht sie ihr Zuhause doch heimlich auf und begegnet der Bediensteten
Kuniko, bei der sie dann auch Unterschlupf bekommt, um aus direkter
Nähe alles familiäre mit zu bekommen. Nach einiger Zeit möchte Nao
wieder nach Hause kommen, denn sie hat ihre Trotzphase überwunden.
Doch dann trifft sie der Schlag: Sie hört wie ihre Familie
fröhlicher Dinge sind und das obwohl die Protagonistin nicht da ist.
Das führt dann wieder zu einem Rückschlag, bei dem Nao diesmal
ernstere Register zieht. Aus dem anfänglichen Spaß wird bitterer
Ernst, denn diesmal will sie nicht einfach verschwinden, sondern so
tun, als wäre sie entführt worden!
Für
Nao erscheint das alles nur ein Spiel und daran sieht man, dass sie
den Ernst der Lage und was das alles für ihre Familie bedeutet
einfach nicht wahrnehmen kann. Man kann ihr vorwerfen, egoistisch zu
handeln, denn Entführungen, auch wenn diese fingiert sind, sind
nicht zum Lachen! Es geht ihr einfach nur darum, dass sie will, dass
ihre Familie verzweifelt nach ihr sucht und vor Sehnsucht nach ihr
vergehen. Ganz ehrlich, das ist fies, keine Frage, aber irgendwie
kann man es auch nachvollziehen. Dennoch, soll ihre Familie tot
traurig sein, weil sie weg ist? Will sie ihre Familie ernsthaft
leiden lassen? Indirekt schon, denn das wäre für sie ein Zeichen,
dass sie ihren Eltern wichtig ist. Doch die Heldin denkt einfach
nicht an die Gefühle anderer und welche Umstände das bereitet und
wie unmoralisch das Ganze ist. Das Mädchen ist eben doch nur ein
Kind, was glaubt, über den Dingen zu stehen, wie wir später
feststellen werden.
Danach
beginnt sozusagen der zweite Teil der Handlung, bei dem es darum
geht, dass Nao ihre Familie an der Nase herum führt. Ja sie belügt
und betrügt ihre Familie und fühlt sich nicht schlecht dabei! Im
Gegenteil: sie genießt es sogar und hat richtig Spaß. Das alles
kann man aus verschiedenen Perspektiven betrachten, einerseits
verurteilen, andererseits nachempfinden oder auch unterhaltsam sehen.
Ich denke mal, dass beim Leser sicherlich mehrere Ansichten
gegeneinander kämpfen, zumindest war das bei mir so. Am Anfang
genießt die Heldin es, dass sie die gesamte Aufmerksamkeit auf sich
hat und sich alle um sie sorgen. Doch dann mischt sich natürlich die
Polizei ein und alles nimmt ernstere Züge an. Sie steht vor dem
Problem, wie sie diese am besten hinters Licht führen kann, ohne das
Spiel aufdecken zu lassen. Dabei arbeitet sie mit Kuniko zusammen,
sie kommunizieren über Handys sodass Nao auch immer weiß, wie die
Lage Zuhause ist.
Es
ist schon interessant das Geschehen zu verfolgen und es wird auch
spannend, wenn Nao kurz davor ist in irgendwelche Fettnäpfchen zu
treten. Sie darf auf keinen Fall auffliegen und muss alles so
realistisch wie möglich konstruieren, was natürlich Verstand
braucht. Für ein junges Mädchen im Mittelschulalter keine leichte
Aufgabe, wie sich heraus stellt, aber durchaus interessant gemacht.
Klar ist man neugierig darauf, wie sich alles entwickelt. Und es ist
mal cool, dass man das Geschehen aus zwei verschiedenen Perspektiven
sehen kann, einerseits aus der der Entführten und der Sichtweise der
Außenstehenden. Dennoch will ich dagegen sagen, dass es nicht so
spannend ist, wie man es sich vorstellt. Ich würde sogar sagen, dass
eigentlich nicht soo viel passiert, alles verläuft ruhig, hin und
wieder wird Aufregung hinein gestreut, doch so wirklich Eindruck
hinterlässt es nicht beim Lesen.
Irgendwann
kommt die Handlung an den Punkt, an dem sie wirklich merkt, dass alle
sehr stark darunter leiden und das ganze eben doch nicht so gut ist,
wie gedacht. Nao will dem Ganzen ein Ende setzen und Lösegeld
verlangen. Die Übergabe wird genau geplant und doch verläuft sie
ganz anders als gewollt. Darauf möchte ich aber nicht genauer
eingehen, sonst würde ich euch die gesamte Handlung versauen.
Jedenfalls
fand ich es gut, dass Nao ihr eigenes Scheitern erkennt und noch mal
über ihr ganzes Vorhaben nachdenkt. In einem emotionalen Monolog
sieht sie ein, dass das ganze Spiel zu viel für sie und ihre Eltern
war. Dass ihr Handeln einfach nicht richtig war und sie sich selbst
überschätzt hat. Sie erkennt dadurch ihre eigenen Grenzen und
bereut das Ganze. Man kann sagen, dass dieser Punkt eine Wende in
ihrer Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Denn durch die
Entführung hat sie sehr viel darüber erfahren, was ihre Eltern über
sie denken und für sie empfinden und wie falsch sie eigentlich mit
ihrer anfänglichen Angst war. Insofern war die Aktion eigentlich
doch nicht umsonst, musste aber eben scheitern.
Was
ich ganz toll fand, war der Twist am Ende, den ich wirklich nicht
erwartet hätte. Der ist so groß, dass er die ganze Geschichte auf
den Kopf stellt und daher werde ich darauf nicht eingehen, sondern
versuchen ihn grob mal zu beurteilen. Er ist cool, weil man dann noch
mal an den Anfang der Geschichte geht und dann versucht Hinweise zu
finden, die mit dem Twist zusammen hängen. Eventuell bekommt man
dadurch eine ganz andere Sichtweise auf das Geschehen. Aber ich fand
es sehr merkwürdig, wie schnell das Ganze abgehandelt wurde und wie
Nao darauf reagiert hatte.
Ich
hätte erwartet, dass sie temperamentvoller antwortet, aber das
reifende Mädchen scheint total gelassen zu sein, obwohl das wirklich
eine schockierende Neuigkeit gewesen ist. Vielleicht zeigt das aber
auch, das sie inzwischen sehr viel reifer geworden ist und besser mit
der Wahrheit umgehen kann. Das wird es wohl sein: am Anfang hat sie
sich gleich wegen einer Kleinigkeit aufgeregt und gegen Ende gewinnt
sie an Gelassenheit, was womöglich ihre Entwicklung verdeutlichen
soll. Obwohl das Ende cool ist, fand ich, dass vieles ungeklärt
blieb, was für mich doch etwas unbefriedigend war. Außerdem fand ich es auch nicht unbedingt so gut, dass Nao ihren Eltern alles gebeichtet hat. Obwohl sie sich verändert hat, hält sie die Lüge dennoch aufrecht. Eigentlich sollte sie lieber dazu stehen, denn sie hat eindeutig Fehler gemacht und ihr Verhalten war alles andere als gerechtfertigt. Ich denke mal, darüber kann man streiten, was man davon hält.
Zu
der Heldin selbst möchte ich sagen, dass Nao wirklich mal eine
interessante Figur darstellt. Wie schon erwähnt, hat sie sowohl
positive wie auch negative Facetten und man glaubt es ihr einfach,
dass sie gerade in der Pubertät steckt. Ehrlich gesagt fand ich sie
eigentlich sehr nervig, mit ihrer arroganten Art und dass sie eben
mit ihrer Familie gespielt hatte und wie sie sich gegenüber Kuniko
verhalten hat. Also das Klischee einer verwöhnten frechem Göre
erfüllt sie auf jeden Fall.
Aber
dennoch weicht sie davon ab. Sie ist kein dummes Mädchen, sondern
kann durchaus kluge Einfälle haben und sie erhält eben Tiefgang,
sie tut es nicht einfach aus Langeweile, sondern weil sie von ihren
Gefühlen ebenso mitgerissen wird. Man kann es verstehen, aber auch
verurteilen, was sie tut. Jedenfalls fand ich toll, dass sie sich
gegen Ende verändert. Man merkt wirklich wie die Handlung und die
Hauptfigur sich gegenseitig beeinflussen. Das ist lobenswert. Dann
kommen noch andere Figuren vor, die jetzt aber nicht so stark
charakterisiert werden. Kuniko wäre vielleicht noch erwähnenswert,
die sehr tollpatschig und ruhig ist und sich von Nao herum
kommandieren lässt, aber sie birgt ein dunkles Geheimnis...
Zeichenstil:
Dazu
brauche ich eigentlich nicht viel sagen, außer, dass ich nichts
auszusetzen habe. Ich liebe den Zeichenstil von Hiro Kiyohara, der
einen recht realistischen Touch vorweist. Die Figuren sehen einfach
alle perfekt und schön aus, die Proportionen stimmen einfach und mit
Gestik und Mimik wird auch wunderbar gearbeitet. Ich mag es, wie der
Mangaka die Augen der Figuren zeichnet und finde das Optische einfach
ästhetisch total ansprechend. Mir ist aufgefallen, dass der
Hintergrund öfter mal leer bleibt, was ich nicht schlimm finde, weil
der Fokus sowieso auf den Figuren liegt. Da wo der Hintergrund aber
wichtig wird, wird er natürlich auch eingesetzt und entsprechend
detailliert ausgeschmückt. Jedenfalls ist der Zeichenstil
unverkennbar, unvergleichlich und für mich einfach sehr toll.
Fazit:
Den
Manga kann ich eindeutig jedem empfehlen, der einfach mal Lust auf
extravagante kurze Geschichten hat, die dennoch sehr viel Tiefe
aufweisen und durch wunderschöne Bilder begleitet wird. Da der Manga
aber doch recht ruhig ist und eigentlich nicht so viel Spannendes
zeigt, könnte er für einige langweilig und langatmig werden, die
mit der Thematik nichts anfangen können. Ich betone aber, dass es
schön ist, dass der Manga sich einem außergewöhnlichen Plot hat,
das Thema Familie aus verschiedenen Sichtweisen beleuchtet und auch
als eine Art Coming-of-Age-Story aufgefasst werden kann. Dennoch kann
der Manga meiner Ansicht nach nicht mit anderen Werken des Duos
mithalten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen